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„Aus der Erinnerung für die Gegenwart leben“

Momente aus dem Leben des Shoah-Überlebenden Ernst Grube



___ Die Zeichnung aus Hannah Brinkmanns Graphic Novel über das Leben von Ernst Grube zeigt sein politisches Engagement im kommunistischen Jugendverband FDJ in den 1950er Jahren. Die Graphic Novel erscheint im Herbst 2023.

Meine Familie

Ich wurde 1932 in der Münchner Häberlstraße geboren. Ein Jahr danach zogen meine Eltern in ein Wohnhaus der Israelitischen Kultusgemeinde in der Herzog-Max-Straße 3. Meine Mutter hat als Krankenschwester im Jüdischen Krankenhaus in München gearbeitet. Mein Vater war aus Ostpreußen und evangelisch, aber sehr aufgeschlossen gegenüber dem jüdischen Glauben meiner Mutter. Als Handwerks- und Malermeister ist er oft auf Wanderschaft gegangen.

Ich habe noch einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Unsere Erziehung war vor allem durch die sozialistische Weltanschauung und die sehr strenge, preußische Art meines Vaters geprägt.

___ Die Familie Grube: Vater Franz, Mutter Clementine, die Söhne Werner und Ernst und ihre Schwester Ruth (v.l.n.r) | © Stadtarchiv München, DE-1992-JUD-V-150-011





























___ Ausschnitt aus einem Interview mit Ernst Grube für die ZDF-Produktion „Momente der Geschichte“, abrufbar auf www.zeitzeugen-portal.de | © ZDF

Nachdem die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernommen hatten, wurde die jüdische Bevölkerung aus der Gesellschaft ausgegrenzt und verfolgt. Mit der ‚Arisierung‘ wurden Jüdinnen und Juden enteignet und mussten ihren Besitz an nichtjüdische Privatleute, Firmen oder an den Staat übereignen. So war auch die Israelitische Kultusgemeinde gezwungen, ihre Wohnhäuser abzugeben.

Die Hauptsynagoge neben unserem Wohnhaus in der Herzog-Max-Straße wurde im Juni 1938 abgerissen.

___ Ausschnitt aus dem Interview mit Ernst Grube für das Projekt „Münchner Zeitgeschichten“ – von und für Jugendliche, 2017 | © NS-Dokumentationszentrum München

Die Situation in der Herzog-Max-Straße wurde für meine Eltern immer schwieriger: Den Mietern der beiden Wohnhäuser wurde gekündigt und Wasser, Strom und Gas abgeschaltet. So blieb meinen Eltern nichts anderes übrig, als mich, meinen Bruder Werner und meine Schwester Ruth – sie war erst vier Monate alt – in das Jüdische Kinderheim nach Schwabing in die Antonienstraße 7 zu bringen. Ich war damals gerade fünf Jahre alt.

Ich weiß es noch genau: Die ganze Familie fuhr am 7. November 1938 mit der Straßenbahn nach Schwabing. Für ein paar Wochen, hieß es! Doch aus diesen paar Wochen wurden viereinhalb Jahre.

___ Wohnung der Familie Grube unter dem Dach (rechts) in der Herzog-Max-Straße kurz vor dem Abriss der Hauptsynagoge (links), 1938 | © Stadtarchiv München





















___ Auszug aus einem Zeitzeugeninterview mit Ernst Grube, 15.01.2014 in München | © NS-Dokumentationszentrum München

Im Jüdischen Kinderheim

Das Kinderheim war ein zweistöckiger Bau mit einem herrlichen Garten und vielen Obstbäumen. Es war ein wahres Paradies! In der Herzog-Max-Straße hatten wir zuletzt sehr isoliert gelebt, ohne Nachbarn, ohne Spielgefährten, ohne Freunde. Im Heim dagegen kamen wir in eine Gemeinschaft von etwa 50 Kindern. Vom Säugling, wie meine Schwester Ruth, bis zu 16-jährigen Jungen und Mädchen waren alle Altersgruppen vertreten. Ein Teil der Kinder hatte keine Eltern mehr, oder die Eltern waren bereits im Ausland und wollten ihre Kinder später nachkommen lassen.

___ Kinderheim der Israelitischen Jugendhilfe e. V., Antonienstraße 7, um 1930 | © Stadtarchiv München, DE-1992-FS-STB-2747

In unserem Elternhaus sind wir nicht jüdisch erzogen worden und jetzt kam ich in dieses Kinderheim und erlebte jüdisches Leben. Im Judentum gibt es viele Feste und dieses jüdische Leben begeisterte uns Kinder einfach. Ich erlebte das Kinderheim als einen Ort der Sicherheit. Wir wurden ja außerhalb des Heims von Jugendlichen aus der Nachbarschaft als „Juden-Schweine“ beschimpft und auch mal tätlich angegriffen, so dass wir nur in Gruppen das Haus verließen.

___ Werner und Ernst Grube (links) im Garten des Antonienheims, 1941 | © Stadtarchiv München, DE-1992-JUD-V-150-004





























___ Ausschnitt aus „Im Ghetto. Jüdische Kindheit in München“ von Renate Eichmeier, Winfried Kiechle und Matthias Reiser, Dokumentarfilm, München 1998. Produziert im Rahmen des Projektes „Zeitgeschichte im Dokumentarfilm“ der Universität Mainz

Die Atmosphäre im Kinderheim wurde dann im November 1941 zerstört. Wir waren etwa 50 Kinder und die Hälfte der Kinder bekam Mitte November die Aufforderung, sich zum Abtransport bereit zu halten. Und jetzt war Unruhe bei uns: Wo geht’s denn hin? Warum kommen die jetzt weg? Warum ausgerechnet die? Werden wir uns wiedersehen?

Und wenn ich heute nach meinem schlimmsten Erlebnis gefragt werde, dann ist es dieser Moment, in dem die Hälfte der Kinder das Heim verlassen musste. Und vor allen Dingen das nachträgliche Wissen, dass sie alle umgebracht worden sind. Dass da keiner mehr lebt. Und das Heim war nicht mehr das Heim.

___ Kinder des Jüdischen Kinderheims, 1941. Ruth Grube (oben, dritte von links) blieb als Kind aus einer ‚Mischehe‘ vor einer Deportation zunächst verschont. | © Stadtarchiv München, DE-1992-JUD-F-0502-03

In den ‚Judenlagern‘ Milbertshofen und Berg am Laim

Nachdem im April 1942 über 700 Münchner Jüdinnen und Juden nach Piaski deportiert worden waren, wurde das Kinderheim aufgelöst. Wir Grube-Kinder kamen mit dreizehn anderen in das ‚Judenlager‘ Milbertshofen in der Knorrstraße 148. Wir sind zunächst deshalb nicht deportiert worden, weil unser Vater nach damaligem Sprachgebrauch ‚Arier‘ war. Ohne seinen Schutz hätten wir diese Zeit bestimmt nicht überlebt.

__ Die vom NS-Regime betriebenen ‚Judenlager‘ Milbertshofen und Berg am Laim waren Arbeits- bzw. Sammellager für Jüdinnen*Juden in München zwischen 1941 und 1943. Sie dienten hauptsächlich als Durchgangsort für die Deportationen nach Kaunas und in die Konzentrations- und Vernichtungslager Piaski, Theresienstadt und Auschwitz. | Foto: Lageplan der ‚Judensiedlung Milbertshofen‘, 1941 | © Stadtarchiv München, BAUA-HB-1124-02

Dank dem Schutz unserer Betreuerinnen haben wir Kinder einigermaßen unbeschwert im Lager gelebt. Über das Furchtbare und Teuflische, das um uns herum vorging, haben wir wenig gesprochen. Ohne Genehmigung durfte niemand das Lager verlassen. Unsere Eltern haben uns auch besucht. Ins Lager selbst durften sie nicht, so dass sie uns manchmal mitnahmen.

___ Baracke im ‚Judenlager‘ Milbertshofen, 1941 | © Stadtarchiv München, DE-1992-FS-NS-00030

Für mich ist Milbertshofen der schlimmste Ort dieser Zeit gewesen. Jeden Tag, und auch nachts, kamen Mitarbeiter der Geheimen Staatspolizei. Sie hetzten jüdische Menschen – aus welchen Gründen auch immer – durch das Lager, quälten sie und sperrten sie in das alte Kesselhaus ein, das in der Mitte des Lagers stand.

Es gibt ja viel, das man vergisst. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Hier nicht. Dieses unbeschreibliche, hoffnungslose Schreien klingt in meinen Ohren. Es ist einfach immer noch da, als ob es vorige Woche gewesen wäre.

___ Interview mit Ernst Grube im Rahmen der performativen Installation „Federbetten nur für Kinder“ auf dem Gelände des ehem. ‚Judenlagers‘ Milbertshofen, 2021 | © CultureClouds e.V.









































Im August 1942 lösten die Nazis das Lager Milbertshofen auf, nachdem sie die meisten Münchner Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt deportiert hatten. Übrig geblieben sind mit uns die Kinder aus dem Antonienheim sowie unsere Betreuerinnen Hedwig Henriette Jacobi und Alice Bendix. Wir kamen nun in das zweite größere ‚Judenlager‘ in Berg am Laim.

Im März 1943 wurde auch dieses nach zahlreichen Deportationen aufgelöst. Laut der Gestapo war München nun ‚judenfrei‘ – nur Jüdinnen und Juden aus ‚Mischehen‘ blieben zunächst von den Deportationen verschont.

___ Bewohner*innen des ‚Judenlagers‘ Berg am Laim, 1942 (vorne rechts Ernst Grube) | Privatbesitz Ernst Grube

Nach 4 ½ Jahren Trennung kamen wir Grube-Kinder endlich wieder zu unseren Eltern. Unser Vater hat uns mit seinem Malerwagen abgeholt und in die Wohnung unserer Eltern gebracht. Auf 1 ½ Zimmer haben wir dann zu fünft gelebt.

Da ich ja nicht in die Schule gehen durfte, habe ich jeden Tag gewartet, bis die Nachbarskinder aus der Schule kamen, um Kontakte zu knüpfen. Aber ich habe jeden Tag erleben müssen, dass ich nicht angenommen wurde. Dass ich ‚der Jud‘ war. Die Ablehnung und Ausgrenzung war groß.

___ Werner Grube (vorne links) und andere Bewohner*innen des ‚Judenlagers‘ in Berg am Laim | © Stadtarchiv München, DE-1992-JUD-V-150

Im Ghetto Theresienstadt

Trotz alledem ließ es sich nicht verhindern, dass unsere Mutter und wir drei Kinder noch im Februar 1945 mit einem der letzten Transporte nach Theresienstadt deportiert wurden. Ich war damals 12 Jahre alt. Mit Zügen wurden wir abtransportiert – zurücklassend unseren Vater, der nicht wusste, ob wir uns jemals wiedersehen würden.

Abends marschierten wir über den Odeonsplatz und den Stachus zum Hauptbahnhof. Am Hauptbahnhof waren zwei von einigen SS-Leuten bewachte Waggons für unseren Transport reserviert.

___ Auszug aus der Deportationsliste mit Familie Grube, Februar 1945 | Privatbesitz Ernst Grube

















___ Auszug aus einem Zeitzeugeninterview mit Ernst Grube, 15.01.2014 in München | © NS-Dokumentationszentrum München

Als wir in Theresienstadt ankamen, wurde unsere Familie getrennt untergebracht: Ruth und ich in verschiedenen Kinderheimen, Werner bei den erwachsenen Männern und unsere Mutter bei den Frauen.

Die Gespräche von uns Kindern drehten sich hauptsächlich um das Essen und was wir mit den Nazis nach dem Krieg machen würden: einsperren, Arbeitslager, sie umbringen? Voller Hass und Wut haben wir diese Möglichkeiten diskutiert. Doch vor allem saß uns die Angst im Nacken: Werden wir dieses Lager überhaupt überleben? Das Schlimmste während unseres relativ kurzen Aufenthalts in Theresienstadt war trotz allem der Hunger. Zum Essen gab es jeden Tag ein mittleres Stück Brot und mittags einige alte, oft faule Kartoffeln oder eine Graupensuppe.

___ Grundriss des Ghettos Theresienstadt | © picture-alliance / akg-images / Juergen Sorges

Unsere Rückkehr nach München

Am 5. Mai 1945 übernahm das Internationale Rote Kreuz das Ghetto und am 8. Mai wurden wir endgültig von der Roten Armee befreit. Wegen der großen Typhusepidemie kamen wir in Quarantäne und mussten noch sechs Wochen in Theresienstadt bleiben. Am 26. Juni 1945 haben wir in offenen Lastwägen die Heimreise nach München angetreten. Dort hat uns unser Vater in der Kaulbachstraße erwartet und wortlos in die Arme geschlossen.

___ Befreiung des Ghetto Theresienstadt durch die Rote Armee, 08.05.1945 | Privatbesitz Ernst Grube

Nach unserer Rückkehr hatte meine Mutter Clementine Grube begonnen, ihre drei Schwestern und deren Familien zu suchen. Sie leben in unserer Erinnerung. Es gibt kein Grab für meine Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, die ab 1941 nach Riga, Piaski und Izbica deportiert wurden. Sie wurden dort erschossen oder in den Vernichtungslagern Sobibor und Belzec ermordet. Mein Onkel Siegfried kam zur Zwangsarbeit in ein Außenlager des KZs Dachaus, wo auch er ermordet wurde.

Da gab es so viel Trauer und Niedergeschlagenheit, dass da nicht mehr viel Platz und Energie für anderes war, was wir gerade als ehemals verfolgte Kinder gebraucht hätten.

___ Ernst Grubes Tante Erna und ihre Zwillinge wurden vom NS-Regime ermordet. | Privatbesitz Ernst Grube

Mein politisches Engagement

Zu meiner Nachkriegsgeschichte gehört, dass ich schon als Jugendlicher zur Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes gegangen bin. Die ermordeten Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen haben der Gesellschaft ja ein Erbe hinterlassen: nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, für Menschenrechte. Und wir von der VVN nehmen dieses Erbe in die Hand.

___ Gedenkveranstaltung für die Opfer des Faschismus, München, Odeonsplatz, September 1947 | Foto: unbekannt

Nach 1945 wollte ich einfach von meinen Erlebnissen erzählen, aber ich musste erleben, dass das überhaupt niemanden interessierte. Die Mehrheit der Bürger hat das Jüdische genauso abgelehnt wie vor der Befreiung. Schon 1946 haben ehemalige Dachauhäftlinge die „Lagergemeinschaft Dachau“ gegründet.

___ Ernst Grube, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, mit dem 2016 verstorbenen KZ-Überlebenden Max Mannheimer (links) vor der evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau, 2007 | Foto: unbekannt

Bei meinem Vater habe ich den Malerberuf erlernt. Zu unserer Kundschaft gehörten auch Menschen, die im Konzentrationslager waren. So habe ich als Jugendlicher viele überlebende Kommunisten kennengelernt und mich mit ihnen angefreundet. Für mich als ehemals verfolgtes jüdisches Kind hatten diese ehemaligen politischen Häftlinge immer ein offenes Ohr. Ihre Erwartungen, dass die verantwortlichen Nazis zur Rechenschaft gezogen werden, erfüllten sich in der Bundesrepublik nicht.

Wenn ich an meine Erlebnisse in den Jahren 1949 / 1950 zurückdenke, so trauerten die meisten Bürger damals eher der Nazizeit und dem verlorenen Krieg nach. Von den Verbrechen der Nazis gegen uns Juden, gegen politisch Widerständige, die in den KZs eingesperrt und gefoltert worden waren, wollten sie nichts wissen.

___ Familie Binder-Olschewski-Binder. Durch seine Arbeit lernte Ernst Rosa Binder und deren Tochter Erika (zweite von links) kennen. Rosa Binder war die Tochter von Wilhelm Olschewski und die Ehefrau von Otto Binder – beide waren ehem. Münchner Widerstandskämpfer. | Privatbesitz Ernst Grube

































___ Auszug aus einem Zeitzeugeninterview mit Ernst Grube, 15.01.2014 in München | © NS-Dokumentationszentrum München















Für Frieden und Gerechtigkeit

Ich habe in der Freien Deutschen Jugend gegen die Wiederaufrüstung gekämpft. Wir sind von der Polizei verfolgt und gejagt worden, weil wir eine Volksbefragung durchführen wollten. Später bin ich dann in die Gewerkschaft gegangen und habe mich auch für soziale Belange eingesetzt.

Kommunisten und andere aktive Antifaschisten haben die Wiederkehr ehemaliger Nazis in ihre alten Funktionen bekämpft, und oft haben sie dafür wie ich Gefängnishaft und gesellschaftliche Ächtung riskiert. Unsere Verfolgungserfahrungen, unsere Verletzungen und Verluste zählten nicht, bestenfalls waren sie anstößig. Darüber sprachen wir nur in kleinen Kreisen, unter uns.

___ Im Mai 1955 fordern Demonstrant*innen am Münchner Königsplatz die Freilassung von Ernst Grube, der während einer Gewerkschaftsdemonstration festgenommen und zu sieben Monaten Gefängnishaft verurteilt worden war. | Privatbesitz Ernst Grube





















___ Auszug aus einem Zeitzeugeninterview mit Ernst Grube, 15.01.2014 in München | © NS-Dokumentationszentrum München

Zur Erinnerung gehört die Verantwortung für die ungesühnten Massenmorde und Kriegsverbrechen der Vergangenheit. Für eine demokratische Gesellschaft ist es lebensnotwendig, dass Unrecht und Verbrechen klar benannt, aufgeklärt und geahndet werden. Wenn wir aufhören, uns gegen die Verletzung von Humanität und Menschenrechten zu stellen, wenn wir die Zerstörung von Asylrecht und Flüchtlingsschutz schön reden lassen und uns nicht vehement gegen Aufrüstungs- und Kriegspolitik einsetzen, geben wir die Errungenschaften der Befreiung von Faschismus und Krieg preis.

____ Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 1. Mai 1954 | Privatbesitz Ernst Grube

Berufsverbot als Lehrer

Der Hauptgrund, warum ich das Abitur nachmachte, war die politische Arbeit. Ich hatte einfach keine Bildung. Und auch historisch wusste ich zu wenig. Dann bin ich auf eine Abendschule gegangen und habe über den zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt. Ich habe mir gesagt, wenn ich jetzt nicht weitermache, dann ist das alles bald vergessen. Schließlich habe ich mich an der Uni eingeschrieben und dort auch wieder politisch gearbeitet.

__ Ernst Grube bei einer Antikriegsdemonstration | Privatbesitz Ernst Grube



Ich bin Berufsschullehrer geworden, Fachschullehrer besser gesagt – für Maler und Lackierer. 1975 habe ich dann ein Berufsverbot bekommen. Das wurde erst einmal nicht begründet. Auf Nachfrage hieß es aber: Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Deutschlands. Mit dem Personalratsvorsitzenden bin ich dann für ein Gespräch ins Rathaus und mit diesem Stern. Daraufhin hat die Stadt München mein Berufsverbot zurückgenommen.

___ Foto: Paul Huf, 2022

Wir brauchen die Erinnerung

Gedenken und Erinnern brauchen wir als Kompass für unsere Orientierung und unser Handeln. Beherzigen wir, was seit der Befreiung von Faschismus und Krieg im Grundgesetz, in der Bayerischen Verfassung und in Artikel 1 der Menschenrechts-Charta verankert ist:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Menschenrechte gelten für alle Menschen!

____ Demonstration gegen das Bayerische Integrationsgesetz in München am 22.10.2016 | Foto: Christel Priemer

Erinnerungskultur war und ist eine sehr anstrengende, aber notwendige Aufgabe. Die Bewusstmachung der größten Menschheitsverbrechen und deren Folgen für unser aktuelles gesellschaftspolitisches Handeln ist nach wie vor umkämpft.

Immer ging und geht es uns, die wir Faschismus und Krieg überlebt haben, darum, mit unseren Berichten nicht nur die Endpunkte faschistischer Gewalt aufzuzeigen, sondern ihren Ausgangspunkt: Wie es schrittweise dazu kam, dass Millionen Deutsche durch rassistische Stimmungsmache bereit waren, diese Schritte ins Verbrechen auszuführen oder zu dulden.

___ Ernst Grube auf dem Gelände des ehem. ‚Judenlagers‘ Milbertshofen im Rahmen der performativen Installation „Federbetten nur für Kinder“, 2021 | © CultureClouds e.V.

Derzeit erleben wir, dass rassistische und rechtspopulistische Anschauungen wieder Konjunktur haben. Besonders betroffen sind Menschen, die Schutz vor Krieg, vor Verfolgung und vor Existenzverlust suchen.

Oft bin ich in Schulen, um als Überlebender der Judenverfolgung zu berichten. Es liegt mir daran, dass Menschen nachdenken und handeln: gegen Antisemitismus, Rassismus und Krieg. Dass sie einstehen für Menschenrechte, gegen Diskriminierung und Unterdrückung.

___ Ernst Grube im Gespräch mit Schüler*innen im NS-Dokumentationszentrum München, 2017 | © NS-Dokumentationszentrum München

Vielen Dank, Ernst Grube!

Ernst Grube hat es sich zur Aufgabe gemacht, über die Verbrechen der NS-Diktatur aufzuklären und sich gegen Ausgrenzung und Unterdrückung zu engagieren. Seit Jahrzehnten erzählt er jungen Menschen von den Schrecken des Nationalsozialismus anhand seiner eigenen Verfolgungserfahrung. Immer wieder hat er auf das Schicksal von Flüchtlingen hingewiesen, von Menschen, die heute unter Ausgrenzung und Ausbeutung leiden, und die Konsequenzen diktatorischer Systeme aufgezeigt. Ernst Grube war und ist immer auch unbequem – vielen Dank dafür, Ernst!



___ Ernst Grube erhält den Ehrenpreis der Stiftung „Münchner Bürgerpreis für Demokratie – gegen Vergessen“, 2021 | © NS-Dokumentationszentrum München

Publikation zum 90. Geburtstag

„Aus der Erinnerung für die Gegenwart leben“. Geschichte und Wirkung des Shoah-Überlebenden Ernst Grube

Zum 90. Geburtstag von Ernst Grube am 13. Dezember 2022 ist ein Sammelband im Wallstein Verlag erschienen. Sein jahrzehntelanges Engagement nehmen die Autor*innen zum Anlass, die erinnerungspolitischen Dimensionen von Zeitzeugenschaft zu beleuchten. > Sammelband kaufen

Quellen

Der Text basiert auf Zitaten von Ernst Grube, entnommen aus Interviews, Publikationen und Dokumenten. Für das Storytelling wurden die Zitate vom NS-Dokumentationszentrum München überarbeitet und sinngemäß wiedergegeben.

Interviews

Interview mit Ernst Grube in München NS-Dokumentationszentrum München, 2014

Ernst Grube: Opfer des NS-Regimes ARD alpha, 2014

Zeuge der Zeit. Ernst Grube: KZ-Kind – Jude – Antifaschist ARD alpha, 2018

Federbetten nur für Kinder Culture Clouds e.V, 2021

Zeitzeugenportal: Erzählen. Erinnern. Entdecken Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Interview im Rahmen der Produktion „Momente der Geschichte“ ZDF, 2011

Renate Eichmeier, Winfried Kiechle, Matthias Reiser: „Im Ghetto. Jüdische Kindheit in München“, Dokumentarfilm, München 1998. Produziert im Rahmen des Projektes „Zeitgeschichte im Dokumentarfilm“ der Universität Mainz

Christel Priemer, Ingeborg Weber: „Ernst Grube – Zeitzeuge. Von einem, der nicht aufgibt“, Dokumentarfilm 2017

Literatur und Dokumente

Ernst Grube: „Den Stern, den tragt Ihr nicht!“. Kindheitserinnerungen an die Judenverfolgung in München, in: Dachauer Hefte, 1993

Ernst Grube: „Du Jud’, schleich’ dich!“ Kindheit in München 1932 bis 1945, in: Angelika Baumann (Hg.), Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1993/94, München 1995

Ernst Grube: Brief an Ruth Meros aus dem Jahr 2013, unveröffentlicht.

Ernst Grube: Rede anlässlich einer Kundgebung gegen das Bayerische Integrationsgesetz am 22.10.2016 in München, unveröffentlichtes Manuskript.

Ernst Grube: Rede anlässlich der Befreiungsfeier des KZ Dachau am 30.04.2017, unveröffentlichtes Manuskript.

Ernst Grube: Rede anlässlich der Veranstaltung „Never again“ auf dem Königsplatz in München am 9.11.2018, unveröffentlichtes Manuskript.

Ernst Grube: Rede anlässlich der Anbringung eines Erinnerungszeichens für den im KZ Dachau ermordeten Kommunisten Franz Xaver Stützinger am 21.07.2021 in München, unveröffentlichtes Manuskript.

Ernst Grube: Rede anlässlich des Gedenkens an die erste Deportation aus München in München am 22.10.2021, unveröffentlichtes Manuskript.

Ernst Grube: Rede anlässlich der Verleihung des Bürgerpreises / Ehrenpreises der Stadt München am 25.10.2021, unveröffentlichtes Manuskript.

Ernst Grube: Rede anlässlich der Einweihung eines Denkmals in der KZ-Gedenkstätte Fuchstal-Seestall am 07.05.2022, unveröffentlichtes Manuskript.

Georg-Elser-Preis der Landeshauptstadt München für Ernst Grube in: Rathaus Umschau

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